Text der Woche 12.02. - 18.02.2024


Sein und Zeit (§1)                                                                                                                                                     

Einleitung:
Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein 


Erstes Kapitel:
Notwendigkeit, Struktur und Vorrang der Seinsfrage 


§ 1.
Die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Wiederholung der Frage nach dem Sein 

 Die genannte Frage ist heute in Vergessenheit gekommen, obzwar unsere Zeit sich als Fortschritt anrechnet, die »Metaphysik« wieder zu bejahen. Gleichwohl hält man sich der Anstrengungen einer neu zu entfachenden γιγαντομαχία περί της ουσίας für enthoben. Dabei ist die angerührte Frage doch keine beliebige. Sie hat das Forschen von Plato und Aristoteles in Atem gehalten, um freilich auch von da an zu verstummen – als thematische Frage wirklicher Untersuchung. Was die beiden gewonnen, hat sich in mannigfachen Verschiebungen und »Übermalungen« bis in die »Logik« Hegels durchgehalten. Und was ehemals in der höchsten Anstrengung des Denkens den Phänomenen abgerungen wurde, wenngleich bruchstückhaft und in ersten Anläufen, ist längst trivialisiert.

 Nicht nur das. Auf dem Boden der griechischen Ansätze zur Interpretation des Seins hat sich ein Dogma ausgebildet, das die Frage nach dem Sinn von Sein nicht nur für überflüssig erklärt, sondern das Versäumnis der Frage überdies sanktioniert. Man sagt: »Sein« ist der allgemeinste und leerste Begriff. Als solcher widersteht er jedem Definitionsversuch. Dieser allgemeinste und daher undefinierbare Begriff bedarf auch keiner Definition. Jeder gebraucht ihn ständig und versteht auch schon, was er je damit meint. Damit ist das, was als Verborgenes das antike Philosophieren in die Unruhe trieb und in ihr erhielt, zu einer sonnenklaren Selbstverständlichkeit geworden, so zwar, dass, wer darnach auch noch fragt, einer methodischen Verfehlung bezichtigt wird. Zu Beginn dieser Untersuchung können die Vorurteile nicht ausführlich erörtert werden, die ständig neu die Bedürfnislosigkeit eines Fragens nach dem Sein pflanzen und hegen. Sie haben ihre Wurzel in der antiken Ontologie selbst. Diese ist wiederum nur – hinsichtlich des Bodens, dem die ontologischen Grundbegriffe entwachsen sind, bezüglich der Angemessenheit der Ausweisung der Kategorien und ihrer Vollständigkeit – zureichend zu interpretieren am Leitfaden der zuvor geklärten und beantworteten Frage nach dem Sein. Wir wollen daher die Diskussion der Vorurteile nur so weit führen, dass dadurch die Notwendigkeit einer Wiederholung der Frage nach dem Sinn von Sein einsichtig wird. Es sind deren drei:

 1. Das »Sein« ist der »allgemeinste« Begriff: τό όν έστι καθόλου μαλιστα παντων. Illud quod primo cadit sub apprehensione est ens, cuius intellectus includitur in omnibus, quaecumque quis apprehendit. »Ein Verständnis des Seins ist je schon mit inbegriffen in allem, was einer am Seienden erfasst.« Aber die »Allgemeinheit« von »Sein« ist nicht die der Gattung. »Sein« umgrenzt nicht die oberste Region des Seienden, sofern dieses nach Gattung und Art begrifflich artikuliert ist: ούτε τό όν γένος. Die »Allgemeinheit« des Seins »übersteigt« alle gattungsmäßige Allgemeinheit. »Sein« ist nach der Bezeichnung der mittelalterlichen Ontologie ein »transcendens«. Die Einheit dieses transzendental »Allgemeinen« gegenüber der Mannigfaltigkeit der sachhaltigen obersten Gattungsbegriffe hat schon Aristoteles als die Einheit der Analogie erkannt. Mit dieser Entdeckung hat Aristoteles bei aller Abhängigkeit von der ontologischen Fragestellung Platons das Problem des Seins auf eine grundsätzlich neue Basis gestellt. Gelichtet hat das Dunkel dieser kategorialen Zusammenhänge freilich auch er nicht. Die mittelalterliche Ontologie hat dieses Problem vor allem in den thomistischen und skotistischen Schulrichtungen vielfältig diskutiert, ohne zu einer grundsätzlichen Klarheit zu kommen. Und wenn schließlich Hegel das »Sein« bestimmt als das »unbestimmte Unmittelbare« und diese Bestimmung allen weiteren kategorialen Explikationen seiner »Logik« zugrunde legt, so hält er sich in derselben Blickrichtung wie die antike Ontologie, nur dass er das von Aristoteles schon gestellte Problem der Einheit des Seins gegenüber der Mannigfaltigkeit der sachhaltigen »Kategorien« aus der Hand gibt. Wenn man demnach sagt: »Sein« ist der allgemeinste Begriff, so kann das nicht heißen, er ist der klarste und aller weiteren Erörterung unbedürftig. Der Begriff des »Seins« ist vielmehr der dunkelste.

 2. Der Begriff »Sein« ist undefinierbar. Dies schloss man aus seiner höchsten Allgemeinheit. Und das mit Recht – wenn definitio fit per genus proximum et differentiam specificam. »Sein« kann in der Tat nicht als Seiendes begriffen werden; enti non additur aliqua natura: »Sein« kann nicht so zur Bestimmtheit kommen, dass ihm Seiendes zugesprochen wird. Das Sein ist definitorisch aus höheren Begriffen nicht abzuleiten und durch niedere nicht darzustellen. Aber folgt hieraus, dass »Sein« kein Problem mehr bieten kann? Mitnichten; gefolgert kann nur werden: »Sein« ist nicht so etwas wie Seiendes. Daher ist die in gewissen Grenzen berechtigte Bestimmungsart von Seiendem –  die »Definition« der traditionellen Logik, die selbst ihre Fundamente in der antiken Ontologie hat – auf das Sein nicht anwendbar. Die Undefinierbarkeit des Seins dispensiert nicht von der Frage nach seinem Sinn, sondern fordert dazu gerade auf.

 3. Das »Sein« ist der selbstverständliche Begriff. In allem Erkennen, Aussagen, in jedem Verhalten zu Seiendem, in jedem Sich-zu-sich-selbst-verhalten wird von »Sein« Gebrauch gemacht, und der Ausdruck ist dabei »ohne weiteres« verständlich. Jeder versteht: »Der Himmel ist blau«; »ich bin froh« und dgl. Allein diese durchschnittliche Verständlichkeit demonstriert nur die Unverständlichkeit. Sie macht offenbar, dass in jedem Verhalten und Sein zu Seiendem als Seiendem a priori ein Rätsel liegt. Dass wir je schon in einem Seinsverständnis leben und der Sinn von Sein zugleich in Dunkel gehüllt ist, beweist die grundsätzliche Notwendigkeit, die Frage nach dem Sinn von »Sein« zu wiederholen.

 Die Berufung auf Selbstverständlichkeit im Umkreis der philosophischen Grundbegriffe und gar im Hinblick auf den Begriff »Sein« ist ein zweifelhaftes Verfahren, wenn anders das »Selbstverständliche« und nur es, »die geheimen Urteile der gemeinen Vernunft« (Kant), ausdrückliches Thema der Analytik (»der Philosophen Geschäft«) werden und bleiben soll.

 Die Erwägung der Vorurteile machte aber zugleich deutlich, dass nicht nur die Antwort fehlt auf die Frage nach dem Sein, sondern dass sogar die Frage selbst dunkel und richtungslos ist. Die Seinsfrage wiederholen besagt daher: erst einmal die Fragestellung zureichend ausarbeiten.


(Martin Heidegger, Sein und Zeit, §1)


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